Text von Jean-Baptiste Joly, 2014
Katalog anlässlich der Ausstellung «hagulane» in der Städtischen Galerie Villingen-Schwenningen
In den Texten, die ihr gewidmet sind, werden Carolin Jörgs künstlerische Arbeiten stets gelobt und als „widerspenstig“1, „sympathisch“2, oder „humorvoll“3 bezeichnet; hervorgehoben werden ihre Fähigkeit, „die Visualisierung eines dynamischen Bewegungsablaufes“4 darzustellen, ebenso ihr gelungenes Spiel „zwischen den Polen der Abstraktion und der Figuration“5. Selbstverständlich stimmen diese Aussagen, es könnte aber sein, dass ein wesentlicher Aspekt der Arbeit von Carolin Jörg nicht beachtet wurde, der in ihren neuen Zeichnungen nun im Vordergrund steht. In ihren auf ein Minimum reduzierten Kompositionen – meistens eine organische, eher abstrakte Form – entbehrt diese neue Serie von Tuschzeichnungen jeglichen Bezug auf die Themen, die Carolin Jörg stets zu verfremden wusste: keine Welt der Mode mehr, keine Hundezucht, weder Stadtlandschaften noch Baustellen, keine schwebenden Fallschirmjäger, keine Reisebilder oder Zeichnungen, die die Unsicherheit einzelner, an der Gesellschaft von heute zweifelnden Menschen darstellen würden. Befreit von allen Accessoires des Zeitgeistes, die sie bisher als Anlass für ihre Zeichnungen brauchte, setzt sich die Künstlerin seit ihrem Aufenthalt in Paris im Jahre 20116 unmittelbar mit dem „weißen Gespenst des noch unbeschriebenen Blattes“7 und der schwarzen Tusche – pur oder mit Wasser gemischt – auseinander. War aber diese Auseinandersetzung mit Materie und einfachen Formen nicht von Anfang an Carolin Jörgs Hauptanliegen, das hinter dem Anekdotischen ihrer Lieblingsmotive noch verborgen blieb? Mit dieser etwas anderen Lesart wird deutlich, dass Carolin Jörgs Zeichnungen nicht nur sympathisch, humorvoll oder widerspenstig sind, sondern von Anfang an die grundsätzliche Frage ihrer Materialität und ihrer Medialität stellten. Darüber unterhielt ich mich am 19. März 2014 mit Carolin Jörg in ihrem Stuttgarter Atelier.
Jean-Baptiste Joly: Können Sie am Beispiel der Spirale, die Sie mit Tusche gezeichnet – oder gemalt – haben, erzählen, wie Sie verfahren? Ich stelle mir vor, Sie würden mit einem ersten Fleck beginnen, dessen Flüssigkeit Sie durch die Fläche ziehen.
Carolin Jörg: Es ist eher ein Schieben als ein Ziehen. Ich muss auch dafür sorgen, dass genügend Flüssigkeit auf dem Pinsel ist.
JBJ: Arbeiten Sie direkt mit dem Pinsel oder machen Sie vorher eine Skizze?
CJ: Manche Tuschzeichnungen sind mit Bleistift vorgezeichnet.
JBJ: Wie setzen Sie den Pinsel an? An der Spitze, oder richtig dick in der Mitte?
CJ: Eher mit der Mitte des Pinsels. Beim Zeichnen kommen automatisch Fragen wie: Wie viel Flüssigkeit habe ich im Bauch des Pinsels? Ist es zu viel, zu wenig? Habe ich zu stark gedrückt, oder zu schwach? Es ist nie eine bewusste Kontrolle, eher eine Frage des Umgangs mit sich selbst – denn man kennt sich so ein bisschen. In der Regel ziehe ich zuerst Konturen, dann trage ich die Flüssigkeit in die Fläche. Es ist alles eine Frage der Konzentration, wie beim Jonglieren, wie ein Spiel. Ich schwanke zwischen Genauigkeit und Gestik.
JBJ: Entstehen die Tuschzeichnungen direkt, ohne „Repentir“, ohne Korrektur?
CJ: Manchmal ist etwas nicht so geraten, wie man es wollte und man ertappt sich selbst am Retten. Das Spiel mit dem Misslungenen setzt Ironie voraus, eine Ironie im Umgang mit sich selbst, mit der eigenen Ungeschicklichkeit, der man dann helfen muss.
JBJ: Dann setzen Sie einen kurzen Kommentar ein, als Reaktion auf das Misslungene und retten damit die Zeichnung auf der Ebene der Selbstironie?
CJ: Ja, es kann vorkommen. Aber es sind doch die Formen, die das Bild bestimmen, die wie von selbst entstehen und von sich aus behaupten: Es ist gut oder es ist nicht gut. In meinen jüngsten Arbeiten sind es einfache Formen, die in sich dieses Funktionieren haben: Es muss eine organische, lebendige Form sein, bei der die Hand der Künstlerin nicht mehr spürbar ist, lebendig, organisch und dann auch abstrakt.
JBJ: Was meinen Sie mit lebendig?
CJ: Die Lebendigkeit des Bildes definiert sich zwischen der Zeichnung und dem Format des Blattes und auch in ihrem Bezug zum Material. Wellen oder Farbverläufe sind Teil von dieser Lebendigkeit. Es ist immer wichtig, eine gewisse Leichtigkeit zu bewahren. Jedes fertige Blatt ist das Ergebnis eines Abwägens: abwägen zwischen Fläche und Format, abwägen zwischen mehr oder weniger komplexen Formen. Wie viel Zeichnung darf es gleichzeitig sein, damit es diese Leichtigkeit behält? Denn die Zeichnung soll im Fluss wachsen, aus einer Geste heraus. Ich kann es durchziehen oder ich bleibe hängen. Manche Zeichnungen sind mühsam…
JBJ: Ihre früheren Zeichnungen waren meistens gegenständlich, oder zumindest realitätsbezogen, und spielten oft mit der Verfremdung der Medienbilder, die unseren Alltag begleiten. Haben Sie sich inzwischen der Abstraktion zugewandt? Worauf beziehen sich Ihre neuen Arbeiten?
CJ: Nein, es geht nicht primär um Abstraktion, auch nicht um eine Abkehr von früheren Themen. Viel eher geht es um eine Art von starker Reduktion, wie ich sie zum Beispiel bei einem Künstler wie Richard Tuttle kenne: Es ist das immer wieder freie Herangehen an neue Ausdrucksformen oder auch die Einfachheit der Materialien. Dieses starke Reduzieren auf manche Arbeitsformen, die Zeichensprache selbst, sind an sich zu verstehen, auf das Hier und Jetzt deutend, nicht unbedingt auf ein besonderes Motiv bezogen.
JBJ: Was heißt für Sie, konkret ausgedrückt, dieses starke Reduzieren?
CJ: Ich verwende fast nur noch schwarze Tusche mit Wasser auf Papier im A4- oder vielleicht auch im A3-Format. Schwarze Tusche ist aber nicht gleich schwarze Tusche, denn ich arbeite gleichzeitig mit fünf verschiedenen Tuschen, die ich oft mische: Schelllack Tusche, was in Frankreich „encre de Chine“ heißt, Leipziger Schwarz, Lamy Tusche mit dem bräunlich rötlichen Ton und Parker oder Montblanc Tusche, eher bläulich.
JBJ: Dann nur noch Zeichnung, mit Tusche auf Papier?
CJ: Nein, denn das Papier lässt viele andere Dinge zu, nicht nur Zeichnen. Die „Waldzeichnungen“ zum Beispiel, waren auf genässtem Büttenpapier gemalt, alle sind in einem einzigen Verfahren entstanden, kaum zehn Minuten pro Blatt. Die Serie der Schwarzwaldbilder habe ich in Paris angefangen, was den Start dieser etwas anderen Arbeitsweise einleitete.
JBJ: Ist diese andere Arbeitsweise für Sie ganz neu?
CJ: Nein, es sind viele Formen, die früher schon da waren und wieder vorkommen, Buchstaben werden weiterhin eingesetzt.
JBJ: Sind Schreiben und Zeichnen für Sie das Gleiche?
CJ: Schreiben kann als stark vermittelnd begriffen werden und verschafft der Zeichnung eine andere Ebene der Aussage. Aber meistens wird der Aussagetext wie zum Beispiel bei „oh“ oder bei „follow me“ durch Wiederholung aufgehoben und gleicht einem zeichnerischen Element.
JBJ: Seit 2008 unterrichten Sie an der École des beaux-arts in Lyon. Wie empfinden Sie die Arbeit mit Studenten, die Lehre? Ist sie eher ein Störfaktor, der ihren Arbeitsprozess unterbricht und erschwert, oder sehen Sie die Lehre als Teil Ihrer künstlerischen Arbeit?
CJ: Von der Lehre habe ich auf jeden Fall eines gelernt: Es ist leichter, Distanz zu den Arbeiten anderer als zu den eigenen zu finden. Im Umgang mit Studenten wurde mir auch einiges bewusster, was meine eigene Praxis betrifft: Mehr Klarheit über Gestik, Körperlichkeit, über den Gegensatz zwischen organisch und unorganisch, über Format, Material und insbesondere über die Einfachheit der Mittel. Ein wichtiger Begriff ist für mich der des Austarierens: entstehen lassen, sich und die Arbeit dabei beobachten und das eigene Wissen darüber abrufen, wenn man es braucht.
JBJ: Wie erklären Sie sich diesen Wunsch nach Reduktion?
CJ: Die Notwendigkeit einer starken Reduktion ist mir mit den Jahren wichtiger geworden und führte zur Entwicklung einer klaren Methodologie. Aber die Umsetzung kann nicht immer stringent funktionieren, sonst wäre der Prozess zu kognitiv; kognitiv, das heißt, der Prozess ließe sich nur rational verstehen. Dieser ist aber eher haptisch und gestisch, als Ergebnis einer nicht kognitiven Verinnerlichung zu verstehen.
JBJ: Mehrfach haben Sie in unserem Gespräch die Begriffe Geste, Gestik und gestisch verwendet. Was verstehen Sie darunter?
CJ: Wie entsteht eine Geste? Wie sich verhalten zwischen einem möglichen Mangel an Selbstvertrauen und der Beständigkeit einer Geste, die man verinnerlicht hat? Im Grunde geht es darum, jenen Augenblick zu erreichen, wenn Dinge entstehen können, und sie dabei entstehen lassen. Wenn dieser Augenblick verpasst wurde, wirkt das Ergebnis verkrampft. Man muss präsent sein, kontrolliert, aber nicht wie im Rausch. Aktion und Reaktion sind Teil des Prozesses und als Einheit zu verstehen. Wenn das Geformte organisch bleibt, dann kommt Lebendigkeit auf!
JBJ: Wozu, wenn man dies überhaupt fragen kann, diese Suche nach Lebendigkeit in Ihrer Arbeit?
CJ: Um Freude zu erzeugen, für sich als Künstlerin und möglichst für die anderen.
1 Andrea Jahn, „Einführungstext“, in: Carolin Jörg, Ausstellungskat., hg. von Andreas Baur, Galerien der Stadt Esslingen am Neckar, 2007
2 Ebd.
3 Andreas Baur, „Vorwort“, in: Carolin Jörg, Ausstellungskat., hg. von Andreas Baur, Galerien der Stadt Esslingen am Neckar, 2007
fn4. Simone Kimmel, „Einführungstext“, in: Carolin Jörg, Flugnummer 318NIX, hg. von Neue Galerie im Höhmannhaus, Kunstsammlungen und Museen Augsburg, 2009
5 Ebd.
6 Diese neue Serie von Zeichnungen wurde zum ersten Mal im Herbst 2012 im Rahmen der Reihe „Retour de Paris“ im Karlsruher Centre Culturel Franco-Allemand ausgestellt.
7 Stéphane Mallarmé, „Crayonné au théâtre“
Jean-Baptiste Joly, 2014
_In critical texts about her, Carolin Jörg’s creative work has been consistently praised and described as „wayward“ (1), „approachable“ (2) or „filled with a sense of humour“ (3); her ability “to visualize a sequence of dynamic movements” (4) is stressed as well as her “effective playing between the twin poles of abstraction and figuration“ (5).
Of course these statements are correct, but it might also be that an essential aspect of Carolin Jörg`s work has been overlooked which in her latest drawings has come to the fore. In their minimalist composition, which are mostly of an organic and rather abstract shape, this new series of ink drawings bears no relation to previous themes, which Carolin Jörg has always shown from an unusual angle: no world of fashion, no dog breeding, no urban landscapes nor building sites, no floating paratroopers, no travel pictures nor drawings depicting the insecurity of individuals who doubt modern society.
Freed of all the appurtenances of Zeitgeist which until now she has used as a starting point for her drawings, since her stay in Paris in 2011 (6) the artist has faced up to the challenge of the “ghostly whiteness of the blank sheet of paper“ (7) and of black ink – either pure or mixed with water. But was this engagement with the material and simple shapes not Carolin Jörg’s main objective from the very beginning but it previously remained hidden behind the story telling aspect of her favourite themes? With this slightly different interpretation it becomes evident that Carolin Jörg’s drawings are not only approachable, full of humour or wayward but also that from the very beginning they pose a basic question about the materials and media used. I discussed this with Carolin Jörg in her Stuttgart studio on March 19, 2014._
Jean-Baptiste Joly: Can you explain how you work, using the example of the spiral you drew or painted with ink? I imagine you start with a blob of ink, and then you drag it out across the surface of the paper.
Carolin Jörg: It’s more pushing than dragging. I must also be sure that there is enough liquid on the brush.
Andrea Jahn, „Einführungstext“, in: Carolin Jörg, exibition catalogue, ed. Andreas Baur, Galerien der Stadt Esslingen am Neckar, 2007 ibid. Andreas Baur, „Vorwort“, in: Carolin Jörg, exibition catalogue, ed. Andreas Baur, Galerien der Stadt Esslingen am Neckar, 2007 Simone Kimmel, „Einführungstext“, in: Carolin Jörg, Flugnummer 318NIX, ed. Neue Galerie im Höhmannhaus, Kunstsammlungen und Museen Augsburg, 2009 ibid. This new series of drawings was first showen in the context of „Retour de Paris“ in Centre Culturel Franco-Allemand Kalrsruhe in automne 2012. Stéphane Mallarmé, „Mimiques“, in: Divagations, Oeuvres Complètes, Bd. 2, Paris 2003, p. 178; Übersetzung JBJ.JBJ: Do you use the brush straight away or do you make a sketch first?
CJ: I sometimes sketch in pencil first.
JBJ: How do you apply your brush? On the tip or using the thickness in the middle?
CJ: Normally the middle of the brush. When I draw, I quite automatically ask myself: How much liquid do I have on the brush? Is it too much or too little? Have I used too much pressure or too little? It is never a conscious control, it is more a question of coming to terms with oneself – after all one does know a bit about oneself. Usually I make the outlines first. Then I apply the liquid to the paper. It is all a matter of concentration. Just like juggling, or like a game. I move between precision and giving my hands free rein.
JBJ: Are the ink drawings created directly without „Repentir“, without any corrections?
CJ: Sometimes things do not go the way you wanted them to and you catch yourself trying to save them. This game with the 'mishaps' presupposes an irony in dealing with oneself, with one’s own clumsiness, which you then have to give a helping hand.
JBJ: So you then add a short comment, as a reaction to the mishap, and so you save the drawing, taking it to a level of self-irony.
CJ: Yes, that does happen. But it’s the shapes that determine the picture, they come into being as if by themselves. They seem to say about themselves: that's good or that's not good. In my most recent works it is simple shapes that have this within themselves. It must be an organic, vital form in which the hand of the artist is no longer noticeable, vital, organic and then also abstract.
JBJ: What do you mean by vital?
CJ: The vitality of the picture is defined through the drawing and the format of the paper as well as their relationship to the material. Waves or colour sequences are part of this vitality. It is always important to maintain a certain lightness. Each finished picture is the result of a balancing act between the surface and the format, a balancing between more or less complex shapes. How much drawing can be allowed at the same time, so that this lightness is maintained? Because the drawing should develop in one flow, from one movement. I can complete it or get stuck. Some drawings are troublesome….
JBJ: Your former drawings were mostly figurative or at least rooted in reality and often played with the alienation of everyday media images. Have you turned to abstract art in the meantime? What are your latest works based on?
CJ: No, it is not primarily a matter of abstraction nor a turning away from earlier themes: It is much more a question of reducing everything to a minimum, such as I have seen in the works of artists like Richard Tuttle: It is the constantly deliberate approach to new ways of expressing oneself or the simplicity of materials. This significant reduction to certain ways of working, the language of signs itself, has to be understood for itself, focussing on the „Here and Now“, not necessarily related to a particular motive.
JBJ: In concrete terms, what does this significant reduction mean to you?
CJ: I mainly use black ink with water on A4 or maybe A3 paper. Not all black ink is alike because I work simultaneously with five different inks which I often mix: shellac ink, which the French call „encre de Chine“, Leipzig black ink, Lamy ink with a reddish brown tone and Parker or Mont Blanc ink which is more bluish.
JBJ: So now you only do ink drawings on paper?
CJ: No, because the paper allows other things, not only drawings. The “forest pictures” for example were drawn on wet hand-made paper, for example. They were all made in one single go, taking not much more than 10 minutes per sheet. I started the series of Black Forest pictures in Paris, which was the beginning of a slightly different approach.
JBJ: Is this different approach completely new to you?
CJ: Not at all, there are many shapes that existed before and are being used again, letters continue to be included.
JBJ: Are writing and drawing the same to you?
CJ: Writing can be seen as a strong intervention and gives the drawing a different level of meaning. But usually the text, like in 'oh' or 'follow me' becomes almost invisible through its repetition and looks just like another part of the drawing.
JBJ: You have been a teacher at the École des Beaux-Arts in Lyon since 2008. How do you feel about your work with students, about teaching? Does it disrupt your working process and make it more difficult or do you consider teaching part of your artistic work?
CJ: I have learnt one thing from teaching: It is easier to achieve a certain distance to the work of others than to your own work. In dealing with students I have also become more aware of certain things concerning my own practice. I have gained more clarity about gesture, physicality, the contrast between the organic and the non-organic, about format, material and especially the simplicity of the materials used. Balance has become a key word for me: creating something, observing oneself and one’s work and retrieving knowledge when necessary.
JBJ: How do you explain your desire for reduction?
CJ: The need for major reduction has become more and more important to me over the years and led to the development of a clear methodology. But in practice, this can not always be strictly carried through; otherwise the process would be too cognitive, I.e. the process could only be understood rationally. But this should be understood as non-verbal and gestural, as the result of a non-cognitive internalisation.
JBJ: You have used the terms gesture, gestures and gestural several times. What do you precisely mean by this?
CJ: How does a gesture arise? How to react to a possible lack in self-confidence and the consistency of a gesture that one has internalised? Basically, we are talking about reaching that moment when things can be created and to allow them to do so. If you miss that moment, the end result seems constrained. You must be present, in control and not in a trance. Action and reaction are part of the process and must be seen as a whole. If what you have formed remains organic, vitality is achieved.
JBJ: Why this quest for vitality in your work, if I may ask?
CJ: To give joy to oneself as an artist and possibly to others.
Text von Sam Szembek, 2011
Eröffnungsrede zur Ausstellung in der Galerie Sebstianskapelle , Ulm, 19. Juni 2011
Wer Carolin Jörg kennenlernt der bemerkt sofort ihren wachen und geraden Blick, mit dem sie alles anschaut. Mich beeindruckt das, denn dieser unverstellte Blick ist selten. Und ich meine ihn in ihrer Arbeit wiederzuentdecken, ohne daß ich mich als Interpret hochspielen muß. Ich staune über diesen Blick: Warum nur läßt sie Fallschirmspringer in ihrer Arbeit auftauchen und hat doch kein erkennbares Interesse an der Fliegerei; vor dem Fallschirmspringen—-und das weiß ich nun einmal zu gut, hat sie gar Schiss.
Und auch wir schauen in größter Bewunderung zum Himmel, wenn sich so ein Wagemutiger aus dem Flugzeug stürzt und als kleiner Punkt der Erde entgegenfliegt. Beinahe jeder schaudert—das könnte ich nie—- und wenn sich dann der Fallschirm öffnet, dann denkt man besänftig: so würde ich auch gerne am Himmel schweben. Diesen kleinen Weg der Verlogenheit erleben wir bei Fallschirmsprung-Veranstaltungen, so meine ich.
Carolin Jörgs Fallschirmspringer sind aber just in diesem freien Fall. Nach 6 bis 7 Sekunden pendelt sich ein Gleichgewicht zwischen Erdanziehung und dem Luftwiderstand ein. Die Pausbäckchen im Gesicht zieht es nach oben; das Gesicht wird geliftet.
Aber die Fallschirmspringer von Carolin rasen nicht der Erde entgegen; sie tummeln sich fröhlich in der Luft und scheinen sich Witze —- ja Witze sicher über ihre Ehegattinnen am Boden —zu erzählen. Und eine Parallele zu dieser Gelöstheit, die ich in den Fallschirmspringern hier erlebe, habe ich in einem Vortrag von James Turell in der Kunsthalle Göppingen vor sicher mehr als fünfzehn Jahren gehört —- ich habe es nicht vergessen: Turell hat über Phänomene in der menschlichen Wahrnehmung berichtet und erzählt, daß Fallschirmspringer in einer bestimmten Höhe meinen zu schweben, und erst ab einer bestimmten Höhe wahrnehmen, daß sie der Erde entgegensausen —- und dieser Höhenmeter, bei dem man dies wahrnimmt, ist —— das ist eine schöne Poesie —- bei allen Menschen gleich. Carolin Jörg schwebt über dieser Höhe, hat kein Sinken und auch kein Landen. Und sie schaut auch nicht von unten zu, sie ist vielmehr mitten in dieser lustigen Rotte der Schweber—-es sind keine Fall-springer. Carolin schwebt heiter mit. Materiallos markieren ihre Fäden die Umrisse der Schweber. Das ist leicht und verschwindet manchmal gar. Perspektivische Verkürzungen öffnen die Wand und heben Material auf: Luft ist alles und soll es sein. Einen Fallschirm brauchen diese Schweber nicht, denn sie verbleiben immer oben.
Ein zweiter Werkbereich von Carolin Jörg: ihre Collagen
Ratlos schaue ich auf den Begriff Urbanismen, mit dem Carolin Jörg einen zweiten Werkbereich bezeichnet. Dieser Begriff klingt vertraut, aber ich weiß nicht, was er bedeuten soll —- und Sie wissen es auch nicht, ich bin sicher. Mein Gymnasium ist nur etwa 25 km entfernt, mein Abitur etwas mehr, aber urbs, das Subjekt, urban, das Adjektiv und dann Urbanismus, wieder ein Substantiv. Dasselbe nun mit femina, feminin, Feminismus, oder mit homo, human, Humanismus —— vielleicht bekommt man so einen Geschmack darüber, was Urbanismus sein könnte: etwas die Stadt Betreffendes —- aber das Ganze mit einem gesteigerten Sinn, einem ismus eben. Bei diesem Geschmack will ich es belassen und einfach hinschauen:
Bezeichnet Carolin Jörg also mit Urbanismus 5 eine ganz bestimmte Stadt und mit Urbanismus 4 eine ganz bestimmte andere —- ich meine nicht, und ich bin selber darüber erstaunt. Hochhäuser stechen in den Himmel, halt, nach oben eben, und davor schlingt sich organisches Gewürm, netzartig umfahren mit Linien, Sichelförmiges, Stachelförmiges. Noch einmal bin ich erstaunt: es zeichnen sich keine Räume, wie man es in Assoziation mit einer Stadt wohl annehmen sollte. Denn erstaunlich: eher aus einer gedachten Mitte erwachsen diese Elemente geradezu organisch wie Triebe einer Pflanze, die äußerst vielgeschlechtlich zu sein scheint. Das klingt einigermaßen verworren, aber ich kann es durchaus mit meinem Hinsehen belegen: Inseln sind es, auf denen aus einem Zentrum heraus Dinge wachsen: zuerst auf Papier gezeichnet dann ausgeschnitten und damit ihrem Kontext entrissen und dann für neues Begegnen geöffnet. So die Urbanismen von Carolin Jörg. Hintergrund dafür sind meine Reisezeichnungen, so sagt mir Carolin Jörg im Atelier. Doch auf den Reisezeichnungen sehe ich keine Reise, vielmehr ist es doch so, daß sie während einer Reise entstanden sind—-und das ist wohl etwas vollkommen anderes. Der Titel Stuttgart, 1. 4. 2009 bedeutet dann eben nicht: das ist Stuttgart an eben diesem Apriltag sondern vielmehr: ich war an diesem Tag in Stuttgart, am 4. 4. und 6. 4. und 11. 4. ebenfalls, und das bedeutet zuallererst doch wohl: schaut, ich bin immer noch in Stuttgart—bedeutet: so schreibe ich in Stuttgart. Ein Tagebuch schreibt sich; der kleine Zeichenblock….14,7 × 9,9 cm steckt immer in der Handtasche. Und ich drehe die Frage einfach um —- so wird es wohl auch Carolin Jörg in irgendeinem Beobachten und Reflektieren machen —- wie schreibe ich mich in Stuttgart und wie in Lyon hin. Plötzlich begreift man die Offenheit dieser Aufzeichnungen, die eben so befragt sein wollen. Die Erwartung über eine konkrete Antwort, Aussage der Zeichnungen ist nur eine oberflächliche Neugierde, eine Neugierde eben, der das Hinsehen auf die Zeichnungen nicht ausreicht. —- Deshalb lassen wir das und lassen Carolin Jörg in ihren Zeichnungen, und schauen wir sie an.
Im Gespräch im Atelier sagt Carolin Jörg plötzlich und eher unvermittelt: ich weiß, daß ich es nicht kann und nicht leiste, Flächen zueinander oder gegeneinander zu setzen —— wie es in der Malerei eingefordert wird. Ich weiß, das kann ich nicht. Diese Offenheit hat mich verblüfft, und diese Ehrlichkeit hat mich beeindruckt. Zuvor schon hatte ich mir über das Bilddenken von Carolin notiert: es sind eher Reihungen, Anfügungen,Wiederholungen, Schraffur, Raster Ornament, Bewegungen, Schlingungen, in denen sie sich bildnerisch ausdrückt, es sind meistens keine — im strengen Sinne — kompositorischen Setzungen.
Das hört sich aber wie eine scharfe Kritik an, die ich über die Arbeiten lege: sie sind nicht komponiert —— aber dann hätte ich nicht hingesehen. Carolin Jörg bewegt sich nicht zufällig auf dem Gebiet der Collage —- und im übertragenen Sinne kann man die ganze Arbeit von Carolin Jörg unter diesem Begriff subsumieren,—sie bewegt sich nicht zufällig auf dem Gebiet der Collage, und warum sollen hier die Gegebenheiten eines gemalten Tafelbildes gelten? Darf ich nicht behaupten —- halten Sie es sich vor Augen —- daß die Collagen von Picasso oder auch von Schwitters vollkommen traditionelle Malerei —— -mit Materialien eben sind. Und das lösen die Collagen von Carolin Jörg nicht ein eben weil sie diesen Kompositionsgedanken gar nicht zulassen. das ist keine singuläre Position von Carolin Jörg, vielmehr eine verbreitete aktuelle Poition in der Zeichnung der Gegenwart zum Beispiel ——— die Collagen von Carolin Jörg lassen diesen Komposiotionsgedanken nicht zu ——- Sie sind etwas im Wesen anderes: sie sind Verschlingungen und Durchdringungen, ja. Die Elemente sind nicht zueinander gesetzt vielmehr ineinander, und plötzlich denke ich: ist das nicht das ganz Gemäße für eine Collage: dieses Durchdringen und Durchschlingen.
Ihre Ausstellung betitelt sie ja mit: Liniengewölle und Kreisflüge.
Liniengewölle —— das ist fürwahr ein anderes Bilddenken.
Und was geschieht, wenn Carolin Jörg Gegenständliches —- ein weiteres Arbeitsfeld von Ihr —— auftauchen läßt? Sie entnimmt zeichnend Gegenstände zum Beispiel aus Katalogen, Lexikas, Sachbüchern und setzt sie zum Beispiel auf kleine Einkaufstüten. componere —— zusammenbringen — sie bringt das Gegenständliche mit diesem Material zusammen ——— kann man dies im übertragenen Sinn als Komposition bezeichnen? Wie ich sprachlich dekliniere ist kein Spiel, denn dieses andere componere ist ein ganz wesenhafter Aspekt in Carolin Jörgs Arbeit. Das Gegensetzen und das Zuweisen ist ein Indirektes-Inneres. Fallschirmspringer werden zu Nagel und Faden um der Hase zum Tüten-Tier. — Und schauen Sie genau auf diese Tütenbilder: alles Gegenständliche tritt einzeln auf; es gibt nichts Dialogisches. Die Dinge nehmen keinen Ort in einem Bildgefüge ein sondern werden zum — Zeichen: schau, ich bin das Baby mit der Sprechblase, —— schau, ich bin das Huhn mit der Halskrause.
Vielleicht denkt Carolin Jörg —- ich habe sie nicht gefragt —- in ihren Bildern so —oder so ähnlich. Sie hat ihre ganz ureigene Leichtigkeit, ihren Blick eben.
Mit einer kleinen Geschichte aus der Musik möchte ich diesen Gedanken über dieses componere abrunden. In schärfster Kritik hat Adorno eine Komposition von Karl Heinz Stockhausen angegriffen zu Beginn der Fünfziger Jahre. Wo ist hier das Motiv, wo dessen Vorder- und wo dessen Nachsatz —— das klassische Kompositionsschema eben, das Adorno ganz selbstverständlich auch bei Stockhausen einfordert. Und dieser antwortet sehr klug: Herr Adorno, sie suchen nach einem Huhn auf einem abstrakten Bild.
Und ich möchte hier aufhören, weil ich diesen Gedanken in der Mitte stehen lassen will. Gehen Sie vielleicht mit diesem Gedanken auf die Ausstellung zu und haben Sie diesen Geschmack mit sich.
Dir, Caro, danke ich für den schönen gemeinsamen Weg auf diese Ausstellung zu. Ich wünsche ihr ein breites Interesse und eine gute Resonanz,
und Ihnen allen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.
Text von Simone Kimmel, 2009
Katalog anlässlich der Ausstellung in der Neuen Galerie im Höhmannhaus, 2009
Flugnummer 318NIX, so der Titel der Ausstellung in der Neuen Galerie im Höhmannhaus bezieht sich nicht nur auf Carolin Jörgs Flug von Lyon nach München, sondern steht ebenso exemplarisch für den Zustand des Unterwegsseins an sich, für die Verbindung zwischen zwei Orten. Carolin Jörg, die momentan Zeichnen an der Kunstakademie in Lyon lehrt, lebt und arbeitet nach wie vor auch in Stuttgart. Vor diesem Hintergrund wird das Unterwegssein zu einem zentralen Bestandteil ihres Lebens und bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Arbeit. Unterwegssein, Reisen, Bewegung ganz allgemein sind Aspekte, die eine Verbindung zwischen den einzelnen Werken der Ausstellung erkennen lassen.
Im vorderen Raum erstreckt sich ein Bewegungsablauf über Wände und Decke der Galerie. Diese Installation, die ebenfalls den Titel Flugnummer trägt, besteht aus schwarzen Fäden, die über Nägel gespannt wurden und wie feine, filigrane Zeichnungen vor der Wand zu schweben scheinen. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich das abstrakte Liniengeflecht als Gruppe von Fallschirmspringern, die sich in einem Spannungsfeld befinden zwischen Fliegen und Fallen, zwischen Schweben und Stürzen. Der Eindruck der gleichzeitigen Auf- und Abwärtsbewegung wird zusätzlich verstärkt durch die herabhängenden Fäden, die die Figuren einerseits erden, die andererseits aber auch an Luftballons erinnern, die abgeschnitten wurden und mit der durchtrennten Schnur nach oben treiben.
Jörg greift mit diesem Bewegungsablauf auf die Formensprache barocker Deckengemälde zurück. Profane Fallschirmspringer nehmen nun die Posen der barocken Putten ein, bilden wolkenartige Formationen, lösen sich voneinander, um sich dann wieder neu zu gruppieren.
Obgleich die Figuren durchaus als solche zu erkennen sind, steht bei der Installation nicht die Darstellung von Personen im Vordergrund, sondern vielmehr die Visualisierung eines dynamischen Bewegungsablaufes. Dieser dehnt sich in den Raum hinein aus und lebt zugleich von der Interaktion mit dem Betrachter.
Für ihn ergeben sich je nach Standort zwischen Abstraktion und Figuration changierende Ansichten der Fadeninstallation; gleichzeitig versetzt er durch seine Bewegungen die Fäden leicht in Schwingung, die in der Folge teilweise zusammenhaften, dicke schwarze Fadenstränge bilden und zu einer kontinuierlichen Veränderung des Erscheinungsbildes führen.
Den zweiten Schwerpunkt der Ausstellung bilden die Papierarbeiten. Auch diese kreisen um das Thema Reise und Bewegung. Mit den Reiseblättern verbindet Jörg innere und äußere Eindrücke der unterschiedlichsten Orte zu neuen Formen und Mustern, die sie in einer Art visuellem Reisetagebuch festhält. Die Titel der Arbeiten geben dabei Auskunft darüber, auf welchen Strecken sie entstanden sind.
Aus diesen Reiseblättern sind die sogenannten 3D-Urbanismen entstanden.
Es sind Collagen, die, ohne konkrete Orte abzubilden, Erinnerungen an Großstädte hervorrufen, indem sie beispielsweise die Ansammlung von Wolkenkratzern oder Parks erkennen lassen. Verschiedene Schichten überlagern und verdichten sich in diesen Arbeiten zu futuristischen Fantasiemetropolen, die etwas von der Faszination, aber auch der Reizüberflutung und dem Lärm des urbanen Raumes in sich bergen.
Während die Reiseblätter und die Urbanismen sehr dicht und farbintensiv, teilweise geradezu laut erscheinen, strahlt der Block La ligne du jour geradezu Ruhe aus. Die einzelnen Papierarbeiten sind in verschiedenen Techniken wie Aquarell, Gouache oder Tusche entstanden. Auch sie lassen sich unter den Begriff der Bewegung subsummieren. Bewegung ist dabei sowohl im konkreten wie auch im abstrakten Sinn zu verstehen.
Bei den figurativen Arbeiten finden sich größtenteils typische Reisemotive, etwa Berge, Skifahrer, Flüsse oder Züge, die nicht selten Bildbänden oder Zeitschriften entnommen sind. Jörg lässt sich von diesen Vorlagen inspirieren, um sie einer künstlerischen Verarbeitung zu unterziehen und herausgelöst aus ihrem ursprüng-lichen Kontext in einer eigenen Formensprache wieder aufs Papier zu bringen.
Neben diesen gegenständlichen Zeichnungen bestehen abstrakte Arbeiten, in denen die Bewegung der Linie zum eigentlichen Thema erhoben wird. Netze, Gitter, Kreise, Strudel, ganz allgemein Strukturen veran-schaulichen, dass die Linie in den Arbeiten Jörgs nicht nur eine konturierende Funktion übernimmt, sondern sich von der Gegenstandsbeschreibung löst, um zum eigentlichen Bildgegenstand zu werden. Diese Zeichnungen sind Experimente, sind Spiele mit der Linie, in denen die Künstlerin deren Gestaltungs-möglichkeiten austestet. Jörg wird gleichsam zur Forscherin, die Linie zu ihrem Untersuchungsgegenstand. Dennoch gelingt es auch in diesen abstrakten Arbeiten, Bezüge zur Gegenstandswelt herzustellen, erinnern sie doch teilweise an naturhafte Strukturen oder weisen stoffliche Qualitäten auf.
Ausgangspunkt der künstlerischen Arbeit von Jörg ist stets die Linie; auf sie lassen sich alle Arbeiten der Ausstellung zurückführen. Während sie bei den Zeichnungen im klassischen Sinn begegnet, wird sie im Fall der Fadeninstallation in eine neue Dimension überführt, erfährt eine Erweiterung in den Raum und erhält einen nahezu skulpturalen Charakter.
Gleichzeitig bewegen sich Jörgs Arbeiten zwischen den Polen der Abstraktion und Figuration. Sie zeigen einen erstaunlichen Facettenreichtum und lassen sich oftmals keiner der beiden Kategorien eindeutig zuordnen. Nicht nur bei den Zeichnungen, sondern auch bei der Fadeninstallation bleibt dieser Zug ins Abstrakte bestehen. Die Fäden geben den Figuren ihre Formen; zugleich verlieren sich die herabhängenden Enden wieder im Formlosen.
Text von Andrea Jahn, 2006
Katalog anlässlich der Ausstellung im Bahnwärterhaus, Galerien de Stadt Esslingen am Neckar, 2007
“Widerspenstig ist das, was sich nicht fügt, was sich nicht glätten lässt. Eine dumme Haarsträhne oder eine Falte, die sich unerwünscht aufgeworfen hat und nur mit besonderen Mitteln, mit technischem Aufwand oder mit Desinteresse zu bewältigen ist. Oder aber mit Humor.”
(Ute Vorkoeper, “Widerspenstige Praktiken im Zeitalter von Bio- und Informations-technologien”, in: www.telepolis.de/tp/deutsch/inhalt/sa/3556/1.html)
Wer sich in die Zeichnungen Carolin Jörgs vertieft, von ihren Videos in Bann gezogen wird oder ihre Wandstickereien erlebt, vermutet in ihnen zunächst wohl kaum etwas Widersetzliches. Dafür sind sie uns einfach zu sympathisch. Denn sie scheinen uns auf seltsame Weise vertraut, sie begegnen uns auf Augenhöhe und sind nicht zuletzt ausgesprochen liebevoll gemacht. Und doch erweisen sich Jörgs Werke gerade dann als widerspenstig, wenn wir uns zurücklehnen und meinen, ihnen blind vertrauen zu können.
So “klassisch” ihre künstlerischen Mittel auch anmuten, Carolin Jörg setzt Zeichnung, Stickerei und Malerei ein, um sie zu verfremden, von innen her aufzureiben, aufzulösen und ihren eigenen Regeln zu unterwerfen: Aquarellierte Zeichnungen auf Papier, sorgfältig auf Taschentücher gestickte Motive, oder Malprozesse, die in Stop-Motion- Filmen beschleunigt werden, ergeben Bilder, die sich schon deshalb nicht fügen, weil sie keine Geschichten erzählen und sich nicht einfach konsumieren lassen.
Jalouse zeigt eine dieser Zeichnungsserien, in denen sich Jörg die Ikonen der Werbebranche vornimmt. Auf Din-A6-Blättern erscheinen in Serie die wie nachgezeichnet wirkenden Werbeseiten der Modeindustrie – mit Models in Kleidern und Jeans von Calvin Klein, Dolce & Gabbana, Longchamp, Moschino oder Taschen von Guess und Miu Miu. Ob diese trendigen Konsumobjekte und ihre visuell konsumierbaren Models nun zu beneiden sind (wie der Titel nahelegt), darf jede/r selbst entscheiden. Die Künstlerin macht jedenfalls durch ihre Art der Zeichnung kein Hehl daraus, dass ihr an Glamour und makelloser Inszenierung wenig gelegen ist. Das Verführungspotential der von ihr gezeigten Werbeschönheiten schrumpft dabei im selben Maße, wie das der von ihnen beworbenen Mode. Dahinter steckt eine sympathische Unverfrorenheit, wie die einer widerspenstigen Haarsträhne, die sich beharrlich der Gestyltheit einer Frisur widersetzt und uns als Betrachter dazu bringt, die Sache etwas genauer in Augenschein zu nehmen.
Das fordern auch Carolin Jörgs neueste Videoarbeiten, die 2006 unter dem Titel “Palais Royal” entstanden sind. Auch hier setzt sich die Künstlerin mit den Bildern der teuren Modemagazine auseinander. Genauer gesagt, mit Aufnahmen weiblicher und männlicher Models, die uns mit ihren Blicken begegnen und uns dabei ermuntern, unseren eigenen Blick über ihre makellosen Gesichter und Körper wandern zu lassen. Was werbestrategisch eingesetzt wird, um zu verführen, nutzt Jörg, um unsere Aufmerksamkeit für ihre Zwecke zu nutzen. Denn kaum haben wir der Schönen im Video Liane 2 in die Augen gesehen, so läuft rote Farbe wie Blut aus ihrem Mund und schwarze Farbschlieren brechen unter ihren Lidern hervor, die dann ihr gesamtes Gesicht mit einem Craquelée überziehen, das schließlich ihren ganzen Körper schwärzt. Es ist einfache Tusche, mit der die Künstlerin dem schönen Schein den Garaus macht und die Traumbilder der Modeindustrie in einen Alptraum verwandelt, der sich unaufhörlich wiederholt. Ihre Video-Loops kennen kein Pardon. So lässt sie ihr in
weiße Spitze und kindliche Unschuld gekleidetes Dornröschen von dunklen Farbdornen überwuchern oder im Video Tränen einen lachenden Sunnyboy in eine wahre Flut schwarzer Tränen ausbrechen, bis dessen Fröhlichkeit unter der Farbbrühe erstirbt. Ein weiteres Video zeigt das Heck eines amerikanischen Straßenkreuzers im Glanz der kalifornischen Sonne, gestylt durch ein Vanity-Plate mit der Aufschrift 'Chanel' – Inbegriff eines kapitalistischen Paradieses, das durch Jörgs malerische Manipulationen auszubluten beginnt, Öl und Lebenssaft verliert, sich auflöst und zur rabenschwarzen Vision zerrinnt.
Auch in Hawaii vollzieht Carolin Jörg die Verwandlung des Paradieses in einen bösen Traum, in dem die Protagonisten gefangen sind. Ein unter Palmen ruhendes Mädchen bei Sonnenuntergang am Strand erleidet zunächst dasselbe Schicksal wie 'Dornröschen'. Farbige Einsprengsel durchsetzen erst unmerklich ihr Kleid, wachsen sich aus zu Farbwurzeln, die Körper und Gesicht ebenso überwuchern wie Palmen und Himmel, bis alles in pechschwarzer Abstraktion versinkt, nur um wenig später behutsam in den ersten Grüntönen der Palmen erneut zum Vorschein zu kommen. Diese Rückverwandlung perfektioniert die Künstlerin in ihrem Video Apparition, in dem sie eine Schönheit von Chanel zur geisterhaften Erscheinung werden lässt, so als wäre sie einem Gemälde von Gustave Moreau entstiegen. Nachdem diese uns ein letztes Mal mit ihren grünen Sphinx-Augen betört hat, verschwindet die immer geheimnisvoller werdende Schöne unter Farbschlieren im Dunkel des völlig zugemalten Bildes – allerdings nur kurz, um dann aus dem Ungewissen wieder aufzutauchen und uns erneut mit ihren Augen zu verfolgen.
Fredric Jameson bezeichnete die Postmoderne einmal als “die totale Sättigung des kulturellen Raumes durch das Bild, sei es durch Werbung, Kommunikationsmedien oder den Cyberspace.” “Wir leben heute in einer Zeit”, schreibt er, in der “alles vollständig in das Sichtbare und kulturell Vertraute übersetzt ist” (Frederic Jameson, The Cultural Turn: Selected Writings on the Postmodern 1983 – 1998 (London 1998), S. 110-112). Sämtliche Formen der Freizeitgestaltung, zu denen natürlich auch Mode und Shopping gehören, fallen in den Bereich der Ästhetik. Kultur vermittelt sich damit ebenso über das Visuelle wie die Kunst. Die Inszenierung von Realität in den Medien überdeckt mit ihrer Bilderflut das Fehlen von Realität. Realität wird zur Fiktion. Insofern zeugen Carolin Jörgs Videoarbeiten von der Auseinandersetzung mit der Frage, wo sich die Bildwelten der Medien und die der Kunst überlagern. Und ob in dieser Begegnung nicht auch die Möglichkeit steckt, die mediale Bilderflut mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Jörg wählt ihre Vorlagen aus Modezeitschriften gezielt so aus, dass wir dem Blick ihrer Modelle immer direkt begegnen und ihnen auch im Prozess der malerischen Verfremdung ausgesetzt bleiben. Dieses Verführungspotential verdankt sich nicht zuletzt der Videotechnik und deren Fähigkeit, die ästhetischen Spuren eines Prozesses nachzuzeichnen, der letztlich zur Zerstörung des Bildes führt. Zugespitzt formuliert besteht Jörgs Strategie also darin, durch Malerei die makellose Oberfläche von Modefotos zu ruinieren, die dafür gemacht sind, unsere Wirklichkeit mit einer Scheinwelt zu überziehen, um so deren Vordergründigkeit freizulegen. Dass sie diese Bilder in Bewegung versetzt und im Video-Loop verarbeitet, bewahrt die Künstlerin davor, mit der “Zerstörung” des Bildes im Pathos der Anprangerung steckenzubleiben.
In Jörgs Werk wird das Bild als Realitätsersatz durch Malerei derart bearbeitet und aufgelöst, dass zwar neue – flüchtige – Bilder entstehen können, doch nur um den Preis des schließlichen Zerfalls. Übrig bleiben zerstörte Idealbilder oder das, was unser Gedächtnis davon bewahrt.
Was passiert, wenn Carolin Jörg dieses Phänomen in Zeichnungen einfängt, gleichsam in Form visueller Gedankensplitter, in Momenten und Eindrücken dessen, was an Bildern in unserem Gedächtnis hängen bleibt? Ein Taucher erscheint neben einer Strichzeichnung und einem Hundeporträt, daneben ein Playboy-Bunny, schattenhafte Figuren, ein Skispringer, eine Giraffe. Skiläufer, Masken, ein Babygesicht und ein Mädchen im Petticoat führen die Komposition fort. Es handelt sich um vereinzelte Motive, die keinen Aufschluss darüber geben, ob und wo zwischen ihnen ein Zusammenhang besteht – hier und da tauchen Berührungspunkte auf, flüchtige und überraschende Bekanntschaften entstehen, doch nur, wenn wir uns auf die Bewegungen zwischen den einzelnen Blättern einlassen.
Jörgs Zeichnungen erinnern uns an Bekanntes, lassen sich identifizieren als Figur, Tier oder Schrift, sind lesbar und gleichzeitig doch nicht zu entschlüsseln – ebensowenig wie ihre komplexen Wandkompositionen selbst. Diese folgen besonderen ästhetischen Überlegungen, nach denen die Anordnung der Blätter, ihr Format und die Tönung des Papiers eine wichtige Rolle spielen. Nicht zufällig hängen Jörgs Zeichnungen in diesem Fall vor der Wand. Sie sind mittels Stecknadeln so befestigt, dass sie aussehen, als würden sie schweben. Dabei scheint nicht selten die bedruckte Rückseite des Papiers durch – auch das ist Kalkül. Interessant wird es gerade dort, wo sich Bilder aus verschiedenen Quellen begegnen: da wendet sich die zarte Buchillustration einer Geisha dem wie von einem Plakat grinsenden Country-Gitarristen zu, unter dem sich die Zeichnung einer Kröte findet, die wiederum aus einem Biologiebuch stammen könnte. Die Aufmerksamkeit des Cowboys dürfte der angedeuteten Badenixe im pinkfarbenen Bikini gelten, die ihrerseits mit der Schrift 'Chopard' auf einem weiteren Blatt wirkungsvoll korrespondiert. Carolin Jörg setzt ihre Bildwelt aus Fundstücken zusammen – Bilder, die immer wieder in einem neuen Kontext aufscheinen und zu neuen Verbindungen führen können. Sie stammen aus Büchern, Pornoheften, Modemagazinen, Zeitungen oder scheinen sich selbst erfunden zu haben, indem sie auf Eindrücke von außen ebenso rekurrieren wie auf ganz persönliche Einfälle der Künstlerin.
Widerspenstig sind diese Zeichnungen in mehrerer Hinsicht. Zum einen, weil sich keine narrative Sequenz aus ihnen ablesen lässt und sie uns zwingen, Gedankensprünge zu vollziehen, lose Enden aufzunehmen und wieder aufzugeben, um so den assoziativen Vorgaben der Künstlerin zu folgen, die unser Bedürfnis nach Kohärenz immer wieder herausfordern. Jörgs Zeichnungen erweisen sich auch insofern als unfügsam, als sie sich klassischen künstlerischen Kriterien widersetzen. In der Darstellung ihrer Motive spielt die Künstlerin zeichnerisch auf scheinbar unbeholfene und schon allein deshalb respektlose Weise mit dem vorgefundenen Bildvokabular. Was sonst an Perfektion und werbewirksamer Inszenierung nicht zu überbieten ist, wird hier skizzenhaft reduziert, und zwar soweit, dass die persönliche Handschrift in den Vordergrund tritt. Indem die Künstlerin eigene Bilderfindungen mit massenproduzierter Bilderware kombiniert und zeichnerisch gleichbehandelt, sensibilisiert sie uns für die Sollbruchstellen dieser Ersatzwelt.
In besonderem Maße konzentriert erscheinen Jörgs 'objets trouvés' des schönen Scheins in ihrer Zeichnungsserie L'amitié franco-allemande (2006), in der die Künstlerin 56 Hundeporträts aus dem 'Larousse de chien', einem französischen Lexikon über Hunderassen, nachgezeichnet hat. Mit Boxern, Pudeln, Dobermännern, Dackeln, Pinschern, Schäferhunden und vielen anderen in Deutschland wie in Frankreich beliebten Rassen liefert Jörg eine Art Sittenporträt der beiden Kulturen: Hundezucht als Spiegel gesellschaftlicher Schichten und Interessen. Die possierlichen oder respekteinflößenden Vierbeiner sind in Szene gesetzt als “beste Freunde des Menschen”. Nicht zuletzt zeigen Ihre lexikalischen Beschreibungen, dass es sich bei ihnen auch um des Menschen am besten funktionierende Projektionen handelt.
Ebenso wie Jörg aus der Vielzahl ihrer Motive eine bestimmte Thematik, wie die der Modebranche weiterentwickelt, ebenso verarbeitet sie ihre Zeichnungen von schwarzen, schattenhaften Figuren und Gruppenbildern in Wandstickereien – genauer gesagt, in Fadenzeichnungen, die mittels Nägeln direkt auf der Wand befestigt sind. Jörgs Zeichnungen und ihre wunderbaren Taschentuchstickereien, wie das eines St. Petersburger Hotels oder eines Pariser Wohnblocks, gehen hier eine zarte Verbindung ein. Anders jedoch als in den Taschentuchstickereien, wird in den Wandstickereien die weiße Wand selbst zum Bildträger. Im Unterschied zu Papier und Stoff tritt die Zeichnung hier “vorsichtig in den Raum”, wie die Künstlerin es selbst formuliert. Dabei unterliegt die Stickerei zugleich formalen Eigenheiten, weil Linien/Fäden, die über Nägel miteinander verbunden sind, eine eher grobe Zeichnung ergeben und zugleich plastisch wahrgenommen werden. Jörg verfremdet die auf diese Weise entstehenden Bilder zusätzlich, indem sie überschüssiges Fadenmaterial einfach hängen lässt. Die herabhängenden Fäden laufen über das eigentliche Motiv hinweg, als würde es Bindfäden regnen.
Besichtigung der Baustelle ist der Titel der neuesten Wandstickerei, die Carolin Jörg in fünf Bildern für ihre Ausstellung im Bahnwärterhaus entworfen hat. Wie in ihren Videos und Zeichnungsserien ist auch das Thema dieser Raum-Installation Bewegung: Figuren, die in einer Art Pilgerwanderung von uns weg oder auf uns zu laufen. Wir befinden uns mitten drin in dieser 'Zeichnung', die als 'Fadeninstallation' eine eigene Dynamik entwickelt. Wir sind aufgefordert, uns in ihr zu bewegen, um ihren plastischen Charakter zu begreifen – als durchscheinendes Relief sozusagen, das sich von der Seite ebenso interessant zeigt, wie frontal betrachtet. Was sich in der Aufsicht als identifizierbare Figurenansammlung lesen lässt, erscheint von der Seite rätselhaft und abstrakt. Interessant ist, dass die Besichtigung der Baustelle genau das nicht zeigt, was sie im Titel verspricht, nämlich die Baustelle selbst. Bis auf den ruhenden Pol einiger Container, sind keine Baustellenrequisiten zu erkennen, sondern lediglich die Figuren der Baustellenbesucher und Arbeiter – im strömenden Regen, wie es scheint, einer gemeinsamen Aufgabe verpflichtet.
Carolin Jörg ist eine Meisterin der losen Enden, man könnte auch sagen, eine Meisterin der Geschichten mit offenem Ende. Denn auch wenn die Besichtigung der Baustelle durch die harmonische Komposition ihrer einzelnen Bildelemente im Raum besticht, so sperrt sie sich doch ganz vehement einer Zuordnung zum illustrativen oder gar dekorativen Genre. Sind denn Baustellen und Baustellenarbeiter bildwürdig? Und das, wo die Künstlerin sie gänzlich 'unklassisch' in einer Art Stickerei umgesetzt hat? Schon allein diese Verbindung von “zarter” Sticktechnik mit Schwerstarbeit, Schutzkleidung und Müllcontainern lässt aufhorchen. Kann es sein, dass Carolin Jörg auch hier übers Hintertürchen erneut ihre Widerspenstigkeit zum Besten gibt, um uns mit einem Augenzwinkern klarzumachen, dass wir der sympathischen Oberfläche ihrer Arbeiten nicht allzusehr vertrauen dürfen? Dass die Bilder, die auf uns einstürmen, formbares Material sein sollten für unsere eigene Vorstellungskraft, ob sie nun aus der Werbung stammen, aus Lehrbüchern, Lexika oder aus der Kunst. Gerade wenn Jörg ihre eigenen oder vorgefundene Motive in Bewegung versetzt, zeigen sie sich umso widerspenstiger; sie stoßen sich an Klischees und allzu einfachen Interpretationen. Und umso besser können wir sie für das nehmen, was sie sind: gemachte Bilder.