Carolin Jörg – Flugnummer 318NIX

Text von Simone Kimmel, 2009
Katalog anlässlich der Ausstellung in der Neuen Galerie im Höhmannhaus, 2009

Flugnummer 318NIX, so der Titel der Ausstellung in der Neuen Galerie im Höhmannhaus bezieht sich nicht nur auf Carolin Jörgs Flug von Lyon nach München, sondern steht ebenso exemplarisch für den Zustand des Unterwegsseins an sich, für die Verbindung zwischen zwei Orten. Carolin Jörg, die momentan Zeichnen an der Kunstakademie in Lyon lehrt, lebt und arbeitet nach wie vor auch in Stuttgart. Vor diesem Hintergrund wird das Unterwegssein zu einem zentralen Bestandteil ihres Lebens und bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Arbeit. Unterwegssein, Reisen, Bewegung ganz allgemein sind Aspekte, die eine Verbindung zwischen den einzelnen Werken der Ausstellung erkennen lassen.

Im vorderen Raum erstreckt sich ein Bewegungsablauf über Wände und Decke der Galerie. Diese Installation, die ebenfalls den Titel Flugnummer trägt, besteht aus schwarzen Fäden, die über Nägel gespannt wurden und wie feine, filigrane Zeichnungen vor der Wand zu schweben scheinen. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich das abstrakte Liniengeflecht als Gruppe von Fallschirmspringern, die sich in einem Spannungsfeld befinden zwischen Fliegen und Fallen, zwischen Schweben und Stürzen. Der Eindruck der gleichzeitigen Auf- und Abwärtsbewegung wird zusätzlich verstärkt durch die herabhängenden Fäden, die die Figuren einerseits erden, die andererseits aber auch an Luftballons erinnern, die abgeschnitten wurden und mit der durchtrennten Schnur nach oben treiben.
Jörg greift mit diesem Bewegungsablauf auf die Formensprache barocker Deckengemälde zurück. Profane Fallschirmspringer nehmen nun die Posen der barocken Putten ein, bilden wolkenartige Formationen, lösen sich voneinander, um sich dann wieder neu zu gruppieren.
Obgleich die Figuren durchaus als solche zu erkennen sind, steht bei der Installation nicht die Darstellung von Personen im Vordergrund, sondern vielmehr die Visualisierung eines dynamischen Bewegungsablaufes. Dieser dehnt sich in den Raum hinein aus und lebt zugleich von der Interaktion mit dem Betrachter.
Für ihn ergeben sich je nach Standort zwischen Abstraktion und Figuration changierende Ansichten der Fadeninstallation; gleichzeitig versetzt er durch seine Bewegungen die Fäden leicht in Schwingung, die in der Folge teilweise zusammenhaften, dicke schwarze Fadenstränge bilden und zu einer kontinuierlichen Veränderung des Erscheinungsbildes führen.

Den zweiten Schwerpunkt der Ausstellung bilden die Papierarbeiten. Auch diese kreisen um das Thema Reise und Bewegung. Mit den Reiseblättern verbindet Jörg innere und äußere Eindrücke der unterschiedlichsten Orte zu neuen Formen und Mustern, die sie in einer Art visuellem Reisetagebuch festhält. Die Titel der Arbeiten geben dabei Auskunft darüber, auf welchen Strecken sie entstanden sind.
Aus diesen Reiseblättern sind die sogenannten 3D-Urbanismen entstanden.

Es sind Collagen, die, ohne konkrete Orte abzubilden, Erinnerungen an Großstädte hervorrufen, indem sie beispielsweise die Ansammlung von Wolkenkratzern oder Parks erkennen lassen. Verschiedene Schichten überlagern und verdichten sich in diesen Arbeiten zu futuristischen Fantasiemetropolen, die etwas von der Faszination, aber auch der Reizüberflutung und dem Lärm des urbanen Raumes in sich bergen.

Während die Reiseblätter und die Urbanismen sehr dicht und farbintensiv, teilweise geradezu laut erscheinen, strahlt der Block La ligne du jour geradezu Ruhe aus. Die einzelnen Papierarbeiten sind in verschiedenen Techniken wie Aquarell, Gouache oder Tusche entstanden. Auch sie lassen sich unter den Begriff der Bewegung subsummieren. Bewegung ist dabei sowohl im konkreten wie auch im abstrakten Sinn zu verstehen.
Bei den figurativen Arbeiten finden sich größtenteils typische Reisemotive, etwa Berge, Skifahrer, Flüsse oder Züge, die nicht selten Bildbänden oder Zeitschriften entnommen sind. Jörg lässt sich von diesen Vorlagen inspirieren, um sie einer künstlerischen Verarbeitung zu unterziehen und herausgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext in einer eigenen Formensprache wieder aufs Papier zu bringen.
Neben diesen gegenständlichen Zeichnungen bestehen abstrakte Arbeiten, in denen die Bewegung der Linie zum eigentlichen Thema erhoben wird. Netze, Gitter, Kreise, Strudel, ganz allgemein Strukturen veranschaulichen, dass die Linie in den Arbeiten Jörgs nicht nur eine konturierende Funktion übernimmt, sondern sich von der Gegenstandsbeschreibung löst, um zum eigentlichen Bildgegenstand zu werden. Diese Zeichnungen sind Experimente, sind Spiele mit der Linie, in denen die Künstlerin deren Gestaltungsmöglichkeiten austestet. Jörg wird gleichsam zur Forscherin, die Linie zu ihrem Untersuchungsgegenstand. Dennoch gelingt es auch in diesen abstrakten Arbeiten, Bezüge zur Gegenstandswelt herzustellen, erinnern sie doch teilweise an naturhafte Strukturen oder weisen stoffliche Qualitäten auf.

Ausgangspunkt der künstlerischen Arbeit von Jörg ist stets die Linie; auf sie lassen sich alle Arbeiten der Ausstellung zurückführen. Während sie bei den Zeichnungen im klassischen Sinn begegnet, wird sie im Fall der Fadeninstallation in eine neue Dimension überführt, erfährt eine Erweiterung in den Raum und erhält einen nahezu skulpturalen Charakter.
Gleichzeitig bewegen sich Jörgs Arbeiten zwischen den Polen der Abstraktion und Figuration. Sie zeigen einen erstaunlichen Facettenreichtum und lassen sich oftmals keiner der beiden Kategorien eindeutig zuordnen. Nicht nur bei den Zeichnungen, sondern auch bei der Fadeninstallation bleibt dieser Zug ins Abstrakte bestehen. Die Fäden geben den Figuren ihre Formen; zugleich verlieren sich die herabhängenden Enden wieder im Formlosen.