Carolin Jörg – Zeichnen gegen den schönen Schein
Text von Andrea Jahn, 2006
Katalog anlässlich der Ausstellung im Bahnwärterhaus, Galerien de Stadt Esslingen am Neckar, 2007
“Widerspenstig ist das, was sich nicht fügt, was sich nicht glätten lässt. Eine dumme Haarsträhne oder eine Falte, die sich unerwünscht aufgeworfen hat und nur mit besonderen Mitteln, mit technischem Aufwand oder mit Desinteresse zu bewältigen ist. Oder aber mit Humor.”
(Ute Vorkoeper, “Widerspenstige Praktiken im Zeitalter von Bio- und Informationstechnologien”, in: www.telepolis.de/tp/deutsch/inhalt/sa/3556/1.html)
Wer sich in die Zeichnungen Carolin Jörgs vertieft, von ihren Videos in Bann gezogen wird oder ihre Wandstickereien erlebt, vermutet in ihnen zunächst wohl kaum etwas Widersetzliches. Dafür sind sie uns einfach zu sympathisch. Denn sie scheinen uns auf seltsame Weise vertraut, sie begegnen uns auf Augenhöhe und sind nicht zuletzt ausgesprochen liebevoll gemacht. Und doch erweisen sich Jörgs Werke gerade dann als widerspenstig, wenn wir uns zurücklehnen und meinen, ihnen blind vertrauen zu können.
So “klassisch” ihre künstlerischen Mittel auch anmuten, Carolin Jörg setzt Zeichnung, Stickerei und Malerei ein, um sie zu verfremden, von innen her aufzureiben, aufzulösen und ihren eigenen Regeln zu unterwerfen: Aquarellierte Zeichnungen auf Papier, sorgfältig auf Taschentücher gestickte Motive, oder Malprozesse, die in Stop-Motion- Filmen beschleunigt werden, ergeben Bilder, die sich schon deshalb nicht fügen, weil sie keine Geschichten erzählen und sich nicht einfach konsumieren lassen.
Jalouse zeigt eine dieser Zeichnungsserien, in denen sich Jörg die Ikonen der Werbebranche vornimmt. Auf Din-A6-Blättern erscheinen in Serie die wie nachgezeichnet wirkenden Werbeseiten der Modeindustrie – mit Models in Kleidern und Jeans von Calvin Klein, Dolce & Gabbana, Longchamp, Moschino oder Taschen von Guess und Miu Miu. Ob diese trendigen Konsumobjekte und ihre visuell konsumierbaren Models nun zu beneiden sind (wie der Titel nahelegt), darf jede/r selbst entscheiden. Die Künstlerin macht jedenfalls durch ihre Art der Zeichnung kein Hehl daraus, dass ihr an Glamour und makelloser Inszenierung wenig gelegen ist. Das Verführungspotential der von ihr gezeigten Werbeschönheiten schrumpft dabei im selben Maße, wie das der von ihnen beworbenen Mode. Dahinter steckt eine sympathische Unverfrorenheit, wie die einer widerspenstigen Haarsträhne, die sich beharrlich der Gestyltheit einer Frisur widersetzt und uns als Betrachter dazu bringt, die Sache etwas genauer in Augenschein zu nehmen.
Das fordern auch Carolin Jörgs neueste Videoarbeiten, die 2006 unter dem Titel “Palais Royal” entstanden sind. Auch hier setzt sich die Künstlerin mit den Bildern der teuren Modemagazine auseinander. Genauer gesagt, mit Aufnahmen weiblicher und männlicher Models, die uns mit ihren Blicken begegnen und uns dabei ermuntern, unseren eigenen Blick über ihre makellosen Gesichter und Körper wandern zu lassen. Was werbestrategisch eingesetzt wird, um zu verführen, nutzt Jörg, um unsere Aufmerksamkeit für ihre Zwecke zu nutzen. Denn kaum haben wir der Schönen im Video Liane 2 in die Augen gesehen, so läuft rote Farbe wie Blut aus ihrem Mund und schwarze Farbschlieren brechen unter ihren Lidern hervor, die dann ihr gesamtes Gesicht mit einem Craquelée überziehen, das schließlich ihren ganzen Körper schwärzt. Es ist einfache Tusche, mit der die Künstlerin dem schönen Schein den Garaus macht und die Traumbilder der Modeindustrie in einen Alptraum verwandelt, der sich unaufhörlich wiederholt. Ihre Video-Loops kennen kein Pardon. So lässt sie ihr in
weiße Spitze und kindliche Unschuld gekleidetes Dornröschen von dunklen Farbdornen überwuchern oder im Video Tränen einen lachenden Sunnyboy in eine wahre Flut schwarzer Tränen ausbrechen, bis dessen Fröhlichkeit unter der Farbbrühe erstirbt. Ein weiteres Video zeigt das Heck eines amerikanischen Straßenkreuzers im Glanz der kalifornischen Sonne, gestylt durch ein Vanity-Plate mit der Aufschrift ‘Chanel’ – Inbegriff eines kapitalistischen Paradieses, das durch Jörgs malerische Manipulationen auszubluten beginnt, Öl und Lebenssaft verliert, sich auflöst und zur rabenschwarzen Vision zerrinnt.
Auch in Hawaii vollzieht Carolin Jörg die Verwandlung des Paradieses in einen bösen Traum, in dem die Protagonisten gefangen sind. Ein unter Palmen ruhendes Mädchen bei Sonnenuntergang am Strand erleidet zunächst dasselbe Schicksal wie ‘Dornröschen’. Farbige Einsprengsel durchsetzen erst unmerklich ihr Kleid, wachsen sich aus zu Farbwurzeln, die Körper und Gesicht ebenso überwuchern wie Palmen und Himmel, bis alles in pechschwarzer Abstraktion versinkt, nur um wenig später behutsam in den ersten Grüntönen der Palmen erneut zum Vorschein zu kommen. Diese Rückverwandlung perfektioniert die Künstlerin in ihrem Video Apparition, in dem sie eine Schönheit von Chanel zur geisterhaften Erscheinung werden lässt, so als wäre sie einem Gemälde von Gustave Moreau entstiegen. Nachdem diese uns ein letztes Mal mit ihren grünen Sphinx-Augen betört hat, verschwindet die immer geheimnisvoller werdende Schöne unter Farbschlieren im Dunkel des völlig zugemalten Bildes – allerdings nur kurz, um dann aus dem Ungewissen wieder aufzutauchen und uns erneut mit ihren Augen zu verfolgen.
Fredric Jameson bezeichnete die Postmoderne einmal als “die totale Sättigung des kulturellen Raumes durch das Bild, sei es durch Werbung, Kommunikationsmedien oder den Cyberspace.” “Wir leben heute in einer Zeit”, schreibt er, in der “alles vollständig in das Sichtbare und kulturell Vertraute übersetzt ist” (Frederic Jameson, The Cultural Turn: Selected Writings on the Postmodern 1983 – 1998 (London 1998), S. 110-112). Sämtliche Formen der Freizeitgestaltung, zu denen natürlich auch Mode und Shopping gehören, fallen in den Bereich der Ästhetik. Kultur vermittelt sich damit ebenso über das Visuelle wie die Kunst. Die Inszenierung von Realität in den Medien überdeckt mit ihrer Bilderflut das Fehlen von Realität. Realität wird zur Fiktion. Insofern zeugen Carolin Jörgs Videoarbeiten von der Auseinandersetzung mit der Frage, wo sich die Bildwelten der Medien und die der Kunst überlagern. Und ob in dieser Begegnung nicht auch die Möglichkeit steckt, die mediale Bilderflut mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Jörg wählt ihre Vorlagen aus Modezeitschriften gezielt so aus, dass wir dem Blick ihrer Modelle immer direkt begegnen und ihnen auch im Prozess der malerischen Verfremdung ausgesetzt bleiben. Dieses Verführungspotential verdankt sich nicht zuletzt der Videotechnik und deren Fähigkeit, die ästhetischen Spuren eines Prozesses nachzuzeichnen, der letztlich zur Zerstörung des Bildes führt. Zugespitzt formuliert besteht Jörgs Strategie also darin, durch Malerei die makellose Oberfläche von Modefotos zu ruinieren, die dafür gemacht sind, unsere Wirklichkeit mit einer Scheinwelt zu überziehen, um so deren Vordergründigkeit freizulegen. Dass sie diese Bilder in Bewegung versetzt und im Video-Loop verarbeitet, bewahrt die Künstlerin davor, mit der “Zerstörung” des Bildes im Pathos der Anprangerung steckenzubleiben.
In Jörgs Werk wird das Bild als Realitätsersatz durch Malerei derart bearbeitet und aufgelöst, dass zwar neue – flüchtige – Bilder entstehen können, doch nur um den Preis des schließlichen Zerfalls. Übrig bleiben zerstörte Idealbilder oder das, was unser Gedächtnis davon bewahrt.
Was passiert, wenn Carolin Jörg dieses Phänomen in Zeichnungen einfängt, gleichsam in Form visueller Gedankensplitter, in Momenten und Eindrücken dessen, was an Bildern in unserem Gedächtnis hängen bleibt? Ein Taucher erscheint neben einer Strichzeichnung und einem Hundeporträt, daneben ein Playboy-Bunny, schattenhafte Figuren, ein Skispringer, eine Giraffe. Skiläufer, Masken, ein Babygesicht und ein Mädchen im Petticoat führen die Komposition fort. Es handelt sich um vereinzelte Motive, die keinen Aufschluss darüber geben, ob und wo zwischen ihnen ein Zusammenhang besteht – hier und da tauchen Berührungspunkte auf, flüchtige und überraschende Bekanntschaften entstehen, doch nur, wenn wir uns auf die Bewegungen zwischen den einzelnen Blättern einlassen.
Jörgs Zeichnungen erinnern uns an Bekanntes, lassen sich identifizieren als Figur, Tier oder Schrift, sind lesbar und gleichzeitig doch nicht zu entschlüsseln – ebensowenig wie ihre komplexen Wandkompositionen selbst. Diese folgen besonderen ästhetischen Überlegungen, nach denen die Anordnung der Blätter, ihr Format und die Tönung des Papiers eine wichtige Rolle spielen. Nicht zufällig hängen Jörgs Zeichnungen in diesem Fall vor der Wand. Sie sind mittels Stecknadeln so befestigt, dass sie aussehen, als würden sie schweben. Dabei scheint nicht selten die bedruckte Rückseite des Papiers durch – auch das ist Kalkül. Interessant wird es gerade dort, wo sich Bilder aus verschiedenen Quellen begegnen: da wendet sich die zarte Buchillustration einer Geisha dem wie von einem Plakat grinsenden Country-Gitarristen zu, unter dem sich die Zeichnung einer Kröte findet, die wiederum aus einem Biologiebuch stammen könnte. Die Aufmerksamkeit des Cowboys dürfte der angedeuteten Badenixe im pinkfarbenen Bikini gelten, die ihrerseits mit der Schrift ‘Chopard’ auf einem weiteren Blatt wirkungsvoll korrespondiert. Carolin Jörg setzt ihre Bildwelt aus Fundstücken zusammen – Bilder, die immer wieder in einem neuen Kontext aufscheinen und zu neuen Verbindungen führen können. Sie stammen aus Büchern, Pornoheften, Modemagazinen, Zeitungen oder scheinen sich selbst erfunden zu haben, indem sie auf Eindrücke von außen ebenso rekurrieren wie auf ganz persönliche Einfälle der Künstlerin.
Widerspenstig sind diese Zeichnungen in mehrerer Hinsicht. Zum einen, weil sich keine narrative Sequenz aus ihnen ablesen lässt und sie uns zwingen, Gedankensprünge zu vollziehen, lose Enden aufzunehmen und wieder aufzugeben, um so den assoziativen Vorgaben der Künstlerin zu folgen, die unser Bedürfnis nach Kohärenz immer wieder herausfordern. Jörgs Zeichnungen erweisen sich auch insofern als unfügsam, als sie sich klassischen künstlerischen Kriterien widersetzen. In der Darstellung ihrer Motive spielt die Künstlerin zeichnerisch auf scheinbar unbeholfene und schon allein deshalb respektlose Weise mit dem vorgefundenen Bildvokabular. Was sonst an Perfektion und werbewirksamer Inszenierung nicht zu überbieten ist, wird hier skizzenhaft reduziert, und zwar soweit, dass die persönliche Handschrift in den Vordergrund tritt. Indem die Künstlerin eigene Bilderfindungen mit massenproduzierter Bilderware kombiniert und zeichnerisch gleichbehandelt, sensibilisiert sie uns für die Sollbruchstellen dieser Ersatzwelt.
In besonderem Maße konzentriert erscheinen Jörgs ‘objets trouvés’ des schönen Scheins in ihrer Zeichnungsserie L’amitié franco-allemande (2006), in der die Künstlerin 56 Hundeporträts aus dem ‘Larousse de chien’, einem französischen Lexikon über Hunderassen, nachgezeichnet hat. Mit Boxern, Pudeln, Dobermännern, Dackeln, Pinschern, Schäferhunden und vielen anderen in Deutschland wie in Frankreich beliebten Rassen liefert Jörg eine Art Sittenporträt der beiden Kulturen: Hundezucht als Spiegel gesellschaftlicher Schichten und Interessen. Die possierlichen oder respekteinflößenden Vierbeiner sind in Szene gesetzt als “beste Freunde des Menschen”. Nicht zuletzt zeigen Ihre lexikalischen Beschreibungen, dass es sich bei ihnen auch um des Menschen am besten funktionierende Projektionen handelt.
Ebenso wie Jörg aus der Vielzahl ihrer Motive eine bestimmte Thematik, wie die der Modebranche weiterentwickelt, ebenso verarbeitet sie ihre Zeichnungen von schwarzen, schattenhaften Figuren und Gruppenbildern in Wandstickereien – genauer gesagt, in Fadenzeichnungen, die mittels Nägeln direkt auf der Wand befestigt sind. Jörgs Zeichnungen und ihre wunderbaren Taschentuchstickereien, wie das eines St. Petersburger Hotels oder eines Pariser Wohnblocks, gehen hier eine zarte Verbindung ein. Anders jedoch als in den Taschentuchstickereien, wird in den Wandstickereien die weiße Wand selbst zum Bildträger. Im Unterschied zu Papier und Stoff tritt die Zeichnung hier “vorsichtig in den Raum”, wie die Künstlerin es selbst formuliert. Dabei unterliegt die Stickerei zugleich formalen Eigenheiten, weil Linien/Fäden, die über Nägel miteinander verbunden sind, eine eher grobe Zeichnung ergeben und zugleich plastisch wahrgenommen werden. Jörg verfremdet die auf diese Weise entstehenden Bilder zusätzlich, indem sie überschüssiges Fadenmaterial einfach hängen lässt. Die herabhängenden Fäden laufen über das eigentliche Motiv hinweg, als würde es Bindfäden regnen.
Besichtigung der Baustelle ist der Titel der neuesten Wandstickerei, die Carolin Jörg in fünf Bildern für ihre Ausstellung im Bahnwärterhaus entworfen hat. Wie in ihren Videos und Zeichnungsserien ist auch das Thema dieser Raum-Installation Bewegung: Figuren, die in einer Art Pilgerwanderung von uns weg oder auf uns zu laufen. Wir befinden uns mitten drin in dieser ‘Zeichnung’, die als ‘Fadeninstallation’ eine eigene Dynamik entwickelt. Wir sind aufgefordert, uns in ihr zu bewegen, um ihren plastischen Charakter zu begreifen – als durchscheinendes Relief sozusagen, das sich von der Seite ebenso interessant zeigt, wie frontal betrachtet. Was sich in der Aufsicht als identifizierbare Figurenansammlung lesen lässt, erscheint von der Seite rätselhaft und abstrakt. Interessant ist, dass die Besichtigung der Baustelle genau das nicht zeigt, was sie im Titel verspricht, nämlich die Baustelle selbst. Bis auf den ruhenden Pol einiger Container, sind keine Baustellenrequisiten zu erkennen, sondern lediglich die Figuren der Baustellenbesucher und Arbeiter – im strömenden Regen, wie es scheint, einer gemeinsamen Aufgabe verpflichtet.
Carolin Jörg ist eine Meisterin der losen Enden, man könnte auch sagen, eine Meisterin der Geschichten mit offenem Ende. Denn auch wenn die Besichtigung der Baustelle durch die harmonische Komposition ihrer einzelnen Bildelemente im Raum besticht, so sperrt sie sich doch ganz vehement einer Zuordnung zum illustrativen oder gar dekorativen Genre. Sind denn Baustellen und Baustellenarbeiter bildwürdig? Und das, wo die Künstlerin sie gänzlich ‘unklassisch’ in einer Art Stickerei umgesetzt hat? Schon allein diese Verbindung von “zarter” Sticktechnik mit Schwerstarbeit, Schutzkleidung und Müllcontainern lässt aufhorchen. Kann es sein, dass Carolin Jörg auch hier übers Hintertürchen erneut ihre Widerspenstigkeit zum Besten gibt, um uns mit einem Augenzwinkern klarzumachen, dass wir der sympathischen Oberfläche ihrer Arbeiten nicht allzu sehr vertrauen dürfen? Dass die Bilder, die auf uns einstürmen, formbares Material sein sollten für unsere eigene Vorstellungskraft, ob sie nun aus der Werbung stammen, aus Lehrbüchern, Lexika oder aus der Kunst. Gerade wenn Jörg ihre eigenen oder vorgefundene Motive in Bewegung versetzt, zeigen sie sich umso widerspenstiger; sie stoßen sich an Klischees und allzu einfachen Interpretationen. Und umso besser können wir sie für das nehmen, was sie sind: gemachte Bilder.