Liniengewölle und Kreisflüge

Text von Sam Szembek, 2011
Eröffnungsrede zur Ausstellung in der Galerie Sebstianskapelle , Ulm, 19. Juni 2011

Wer Carolin Jörg kennenlernt der bemerkt sofort ihren wachen und geraden Blick, mit dem sie alles anschaut. Mich beeindruckt das, denn dieser unverstellte Blick ist selten. Und ich meine ihn in ihrer Arbeit wiederzuentdecken, ohne daß ich mich als Interpret hochspielen muß. Ich staune über diesen Blick: Warum nur läßt sie Fallschirmspringer in ihrer Arbeit auftauchen und hat doch kein erkennbares Interesse an der Fliegerei; vor dem Fallschirmspringen—-und das weiß ich nun einmal zu gut, hat sie gar Schiss.
Und auch wir schauen in größter Bewunderung zum Himmel, wenn sich so ein Wagemutiger aus dem Flugzeug stürzt und als kleiner Punkt der Erde entgegenfliegt. Beinahe jeder schaudert—das könnte ich nie—- und wenn sich dann der Fallschirm öffnet, dann denkt man besänftig: so würde ich auch gerne am Himmel schweben. Diesen kleinen Weg der Verlogenheit erleben wir bei Fallschirmsprung-Veranstaltungen, so meine ich.

Carolin Jörgs Fallschirmspringer sind aber just in diesem freien Fall. Nach 6 bis 7 Sekunden pendelt sich ein Gleichgewicht zwischen Erdanziehung und dem Luftwiderstand ein. Die Pausbäckchen im Gesicht zieht es nach oben; das Gesicht wird geliftet.
Aber die Fallschirmspringer von Carolin rasen nicht der Erde entgegen; sie tummeln sich fröhlich in der Luft und scheinen sich Witze —- ja Witze sicher über ihre Ehegattinnen am Boden —zu erzählen. Und eine Parallele zu dieser Gelöstheit, die ich in den Fallschirmspringern hier erlebe, habe ich in einem Vortrag von James Turell in der Kunsthalle Göppingen vor sicher mehr als fünfzehn Jahren gehört —- ich habe es nicht vergessen: Turell hat über Phänomene in der menschlichen Wahrnehmung berichtet und erzählt, daß Fallschirmspringer in einer bestimmten Höhe meinen zu schweben, und erst ab einer bestimmten Höhe wahrnehmen, daß sie der Erde entgegensausen —- und dieser Höhenmeter, bei dem man dies wahrnimmt, ist —— das ist eine schöne Poesie —- bei allen Menschen gleich. Carolin Jörg schwebt über dieser Höhe, hat kein Sinken und auch kein Landen. Und sie schaut auch nicht von unten zu, sie ist vielmehr mitten in dieser lustigen Rotte der Schweber—-es sind keine Fall-springer. Carolin schwebt heiter mit. Materiallos markieren ihre Fäden die Umrisse der Schweber. Das ist leicht und verschwindet manchmal gar. Perspektivische Verkürzungen öffnen die Wand und heben Material auf: Luft ist alles und soll es sein. Einen Fallschirm brauchen diese Schweber nicht, denn sie verbleiben immer oben.

Ein zweiter Werkbereich von Carolin Jörg: ihre Collagen
Ratlos schaue ich auf den Begriff Urbanismen, mit dem Carolin Jörg einen zweiten Werkbereich bezeichnet. Dieser Begriff klingt vertraut, aber ich weiß nicht, was er bedeuten soll —- und Sie wissen es auch nicht, ich bin sicher. Mein Gymnasium ist nur etwa 25 km entfernt, mein Abitur etwas mehr, aber urbs, das Subjekt, urban, das Adjektiv und dann Urbanismus, wieder ein Substantiv. Dasselbe nun mit femina, feminin, Feminismus, oder mit homo, human, Humanismus —— vielleicht bekommt man so einen Geschmack darüber, was Urbanismus sein könnte: etwas die Stadt Betreffendes —- aber das Ganze mit einem gesteigerten Sinn, einem ismus eben. Bei diesem Geschmack will ich es belassen und einfach hinschauen:

Bezeichnet Carolin Jörg also mit Urbanismus 5 eine ganz bestimmte Stadt und mit Urbanismus 4 eine ganz bestimmte andere —- ich meine nicht, und ich bin selber darüber erstaunt. Hochhäuser stechen in den Himmel, halt, nach oben eben, und davor schlingt sich organisches Gewürm, netzartig umfahren mit Linien, Sichelförmiges, Stachelförmiges. Noch einmal bin ich erstaunt: es zeichnen sich keine Räume, wie man es in Assoziation mit einer Stadt wohl annehmen sollte. Denn erstaunlich: eher aus einer gedachten Mitte erwachsen diese Elemente geradezu organisch wie Triebe einer Pflanze, die äußerst vielgeschlechtlich zu sein scheint. Das klingt einigermaßen verworren, aber ich kann es durchaus mit meinem Hinsehen belegen: Inseln sind es, auf denen aus einem Zentrum heraus Dinge wachsen: zuerst auf Papier gezeichnet dann ausgeschnitten und damit ihrem Kontext entrissen und dann für neues Begegnen geöffnet. So die Urbanismen von Carolin Jörg. Hintergrund dafür sind meine Reisezeichnungen, so sagt mir Carolin Jörg im Atelier. Doch auf den Reisezeichnungen sehe ich keine Reise, vielmehr ist es doch so, daß sie während einer Reise entstanden sind—-und das ist wohl etwas vollkommen anderes. Der Titel Stuttgart, 1. 4. 2009 bedeutet dann eben nicht: das ist Stuttgart an eben diesem Apriltag sondern vielmehr: ich war an diesem Tag in Stuttgart, am 4. 4. und 6. 4. und 11. 4. ebenfalls, und das bedeutet zuallererst doch wohl: schaut, ich bin immer noch in Stuttgart—bedeutet: so schreibe ich in Stuttgart. Ein Tagebuch schreibt sich; der kleine Zeichenblock….14,7 × 9,9 cm steckt immer in der Handtasche. Und ich drehe die Frage einfach um —- so wird es wohl auch Carolin Jörg in irgendeinem Beobachten und Reflektieren machen —- wie schreibe ich mich in Stuttgart und wie in Lyon hin. Plötzlich begreift man die Offenheit dieser Aufzeichnungen, die eben so befragt sein wollen. Die Erwartung über eine konkrete Antwort, Aussage der Zeichnungen ist nur eine oberflächliche Neugierde, eine Neugierde eben, der das Hinsehen auf die Zeichnungen nicht ausreicht. —- Deshalb lassen wir das und lassen Carolin Jörg in ihren Zeichnungen, und schauen wir sie an.

Im Gespräch im Atelier sagt Carolin Jörg plötzlich und eher unvermittelt: ich weiß, daß ich es nicht kann und nicht leiste, Flächen zueinander oder gegeneinander zu setzen —— wie es in der Malerei eingefordert wird. Ich weiß, das kann ich nicht. Diese Offenheit hat mich verblüfft, und diese Ehrlichkeit hat mich beeindruckt. Zuvor schon hatte ich mir über das Bilddenken von Carolin notiert: es sind eher Reihungen, Anfügungen, Wiederholungen, Schraffur, Raster Ornament, Bewegungen, Schlingungen, in denen sie sich bildnerisch ausdrückt, es sind meistens keine — im strengen Sinne — kompositorischen Setzungen.
Das hört sich aber wie eine scharfe Kritik an, die ich über die Arbeiten lege: sie sind nicht komponiert —— aber dann hätte ich nicht hingesehen. Carolin Jörg bewegt sich nicht zufällig auf dem Gebiet der Collage —- und im übertragenen Sinne kann man die ganze Arbeit von Carolin Jörg unter diesem Begriff subsumieren,—sie bewegt sich nicht zufällig auf dem Gebiet der Collage, und warum sollen hier die Gegebenheiten eines gemalten Tafelbildes gelten? Darf ich nicht behaupten —- halten Sie es sich vor Augen —- daß die Collagen von Picasso oder auch von Schwitters vollkommen traditionelle Malerei —— mit Materialien eben sind. Und das lösen die Collagen von Carolin Jörg nicht ein eben weil sie diesen Kompositionsgedanken gar nicht zulassen. das ist keine singuläre Position von Carolin Jörg, vielmehr eine verbreitete aktuelle Poition in der Zeichnung der Gegenwart zum Beispiel ——— die Collagen von Carolin Jörg lassen diesen Komposiotionsgedanken nicht zu —— Sie sind etwas im Wesen anderes: sie sind Verschlingungen und Durchdringungen, ja. Die Elemente sind nicht zueinander gesetzt vielmehr ineinander, und plötzlich denke ich: ist das nicht das ganz Gemäße für eine Collage: dieses Durchdringen und Durchschlingen.
Ihre Ausstellung betitelt sie ja mit: Liniengewölle und Kreisflüge.
Liniengewölle —— das ist fürwahr ein anderes Bilddenken.

Und was geschieht, wenn Carolin Jörg Gegenständliches —- ein weiteres Arbeitsfeld von Ihr —— auftauchen läßt? Sie entnimmt zeichnend Gegenstände zum Beispiel aus Katalogen, Lexikas, Sachbüchern und setzt sie zum Beispiel auf kleine Einkaufstüten. componere —— zusammenbringen — sie bringt das Gegenständliche mit diesem Material zusammen ——— kann man dies im übertragenen Sinn als Komposition bezeichnen? Wie ich sprachlich dekliniere ist kein Spiel, denn dieses andere componere ist ein ganz wesenhafter Aspekt in Carolin Jörgs Arbeit. Das Gegensetzen und das Zuweisen ist ein Indirektes-Inneres. Fallschirmspringer werden zu Nagel und Faden um der Hase zum Tüten-Tier. — Und schauen Sie genau auf diese Tütenbilder: alles Gegenständliche tritt einzeln auf; es gibt nichts Dialogisches. Die Dinge nehmen keinen Ort in einem Bildgefüge ein sondern werden zum — Zeichen: schau, ich bin das Baby mit der Sprechblase, —— schau, ich bin das Huhn mit der Halskrause.

Vielleicht denkt Carolin Jörg —- ich habe sie nicht gefragt —- in ihren Bildern so —oder so ähnlich. Sie hat ihre ganz ureigene Leichtigkeit, ihren Blick eben.

Mit einer kleinen Geschichte aus der Musik möchte ich diesen Gedanken über dieses componere abrunden. In schärfster Kritik hat Adorno eine Komposition von Karl Heinz Stockhausen angegriffen zu Beginn der Fünfziger Jahre. Wo ist hier das Motiv, wo dessen Vorder- und wo dessen Nachsatz —— das klassische Kompositionsschema eben, das Adorno ganz selbstverständlich auch bei Stockhausen einfordert. Und dieser antwortet sehr klug: Herr Adorno, sie suchen nach einem Huhn auf einem abstrakten Bild.

Und ich möchte hier aufhören, weil ich diesen Gedanken in der Mitte stehen lassen will. Gehen Sie vielleicht mit diesem Gedanken auf die Ausstellung zu und haben Sie diesen Geschmack mit sich.
Dir, Caro, danke ich für den schönen gemeinsamen Weg auf diese Ausstellung zu. Ich wünsche ihr ein breites Interesse und eine gute Resonanz, und Ihnen allen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.