Nur noch schwarze Tusche mit Wasser auf Papier
Text von Jean-Baptiste Joly, 2014
Katalog anlässlich der Ausstellung «hagulane» in der Städtischen Galerie Villingen-Schwenningen
In den Texten, die ihr gewidmet sind, werden Carolin Jörgs künstlerische Arbeiten stets gelobt und als „widerspenstig“1, „sympathisch“2, oder „humorvoll“3 bezeichnet; hervorgehoben werden ihre Fähigkeit, „die Visualisierung eines dynamischen Bewegungsablaufes“4 darzustellen, ebenso ihr gelungenes Spiel „zwischen den Polen der Abstraktion und der Figuration“5. Selbstverständlich stimmen diese Aussagen, es könnte aber sein, dass ein wesentlicher Aspekt der Arbeit von Carolin Jörg nicht beachtet wurde, der in ihren neuen Zeichnungen nun im Vordergrund steht. In ihren auf ein Minimum reduzierten Kompositionen – meistens eine organische, eher abstrakte Form – entbehrt diese neue Serie von Tuschzeichnungen jeglichen Bezug auf die Themen, die Carolin Jörg stets zu verfremden wusste: keine Welt der Mode mehr, keine Hundezucht, weder Stadtlandschaften noch Baustellen, keine schwebenden Fallschirmjäger, keine Reisebilder oder Zeichnungen, die die Unsicherheit einzelner, an der Gesellschaft von heute zweifelnden Menschen darstellen würden. Befreit von allen Accessoires des Zeitgeistes, die sie bisher als Anlass für ihre Zeichnungen brauchte, setzt sich die Künstlerin seit ihrem Aufenthalt in Paris im Jahre 20116 unmittelbar mit dem „weißen Gespenst des noch unbeschriebenen Blattes“7 und der schwarzen Tusche – pur oder mit Wasser gemischt – auseinander. War aber diese Auseinandersetzung mit Materie und einfachen Formen nicht von Anfang an Carolin Jörgs Hauptanliegen, das hinter dem Anekdotischen ihrer Lieblingsmotive noch verborgen blieb? Mit dieser etwas anderen Lesart wird deutlich, dass Carolin Jörgs Zeichnungen nicht nur sympathisch, humorvoll oder widerspenstig sind, sondern von Anfang an die grundsätzliche Frage ihrer Materialität und ihrer Medialität stellten. Darüber unterhielt ich mich am 19. März 2014 mit Carolin Jörg in ihrem Stuttgarter Atelier.
Jean-Baptiste Joly: Können Sie am Beispiel der Spirale, die Sie mit Tusche gezeichnet – oder gemalt – haben, erzählen, wie Sie verfahren? Ich stelle mir vor, Sie würden mit einem ersten Fleck beginnen, dessen Flüssigkeit Sie durch die Fläche ziehen.
Carolin Jörg: Es ist eher ein Schieben als ein Ziehen. Ich muss auch dafür sorgen, dass genügend Flüssigkeit auf dem Pinsel ist.
JBJ: Arbeiten Sie direkt mit dem Pinsel oder machen Sie vorher eine Skizze?
CJ: Manche Tuschzeichnungen sind mit Bleistift vorgezeichnet.
JBJ: Wie setzen Sie den Pinsel an? An der Spitze, oder richtig dick in der Mitte?
CJ: Eher mit der Mitte des Pinsels. Beim Zeichnen kommen automatisch Fragen wie: Wie viel Flüssigkeit habe ich im Bauch des Pinsels? Ist es zu viel, zu wenig? Habe ich zu stark gedrückt, oder zu schwach? Es ist nie eine bewusste Kontrolle, eher eine Frage des Umgangs mit sich selbst – denn man kennt sich so ein bisschen. In der Regel ziehe ich zuerst Konturen, dann trage ich die Flüssigkeit in die Fläche. Es ist alles eine Frage der Konzentration, wie beim Jonglieren, wie ein Spiel. Ich schwanke zwischen Genauigkeit und Gestik.
JBJ: Entstehen die Tuschzeichnungen direkt, ohne „Repentir“, ohne Korrektur?
CJ: Manchmal ist etwas nicht so geraten, wie man es wollte und man ertappt sich selbst am Retten. Das Spiel mit dem Misslungenen setzt Ironie voraus, eine Ironie im Umgang mit sich selbst, mit der eigenen Ungeschicklichkeit, der man dann helfen muss.
JBJ: Dann setzen Sie einen kurzen Kommentar ein, als Reaktion auf das Misslungene und retten damit die Zeichnung auf der Ebene der Selbstironie?
CJ: Ja, es kann vorkommen. Aber es sind doch die Formen, die das Bild bestimmen, die wie von selbst entstehen und von sich aus behaupten: Es ist gut oder es ist nicht gut. In meinen jüngsten Arbeiten sind es einfache Formen, die in sich dieses Funktionieren haben: Es muss eine organische, lebendige Form sein, bei der die Hand der Künstlerin nicht mehr spürbar ist, lebendig, organisch und dann auch abstrakt.
JBJ: Was meinen Sie mit lebendig?
CJ: Die Lebendigkeit des Bildes definiert sich zwischen der Zeichnung und dem Format des Blattes und auch in ihrem Bezug zum Material. Wellen oder Farbverläufe sind Teil von dieser Lebendigkeit. Es ist immer wichtig, eine gewisse Leichtigkeit zu bewahren. Jedes fertige Blatt ist das Ergebnis eines Abwägens: abwägen zwischen Fläche und Format, abwägen zwischen mehr oder weniger komplexen Formen. Wie viel Zeichnung darf es gleichzeitig sein, damit es diese Leichtigkeit behält? Denn die Zeichnung soll im Fluss wachsen, aus einer Geste heraus. Ich kann es durchziehen oder ich bleibe hängen. Manche Zeichnungen sind mühsam…
JBJ: Ihre früheren Zeichnungen waren meistens gegenständlich, oder zumindest realitätsbezogen, und spielten oft mit der Verfremdung der Medienbilder, die unseren Alltag begleiten. Haben Sie sich inzwischen der Abstraktion zugewandt? Worauf beziehen sich Ihre neuen Arbeiten?
CJ: Nein, es geht nicht primär um Abstraktion, auch nicht um eine Abkehr von früheren Themen. Viel eher geht es um eine Art von starker Reduktion, wie ich sie zum Beispiel bei einem Künstler wie Richard Tuttle kenne: Es ist das immer wieder freie Herangehen an neue Ausdrucksformen oder auch die Einfachheit der Materialien. Dieses starke Reduzieren auf manche Arbeitsformen, die Zeichensprache selbst, sind an sich zu verstehen, auf das Hier und Jetzt deutend, nicht unbedingt auf ein besonderes Motiv bezogen.
JBJ: Was heißt für Sie, konkret ausgedrückt, dieses starke Reduzieren?
CJ: Ich verwende fast nur noch schwarze Tusche mit Wasser auf Papier im A4- oder vielleicht auch im A3-Format. Schwarze Tusche ist aber nicht gleich schwarze Tusche, denn ich arbeite gleichzeitig mit fünf verschiedenen Tuschen, die ich oft mische: Schelllack Tusche, was in Frankreich „encre de Chine“ heißt, Leipziger Schwarz, Lamy Tusche mit dem bräunlich rötlichen Ton und Parker oder Montblanc Tusche, eher bläulich.
JBJ: Dann nur noch Zeichnung, mit Tusche auf Papier?
CJ: Nein, denn das Papier lässt viele andere Dinge zu, nicht nur Zeichnen. Die „Waldzeichnungen“ zum Beispiel, waren auf genässtem Büttenpapier gemalt, alle sind in einem einzigen Verfahren entstanden, kaum zehn Minuten pro Blatt. Die Serie der Schwarzwaldbilder habe ich in Paris angefangen, was den Start dieser etwas anderen Arbeitsweise einleitete.
JBJ: Ist diese andere Arbeitsweise für Sie ganz neu?
CJ: Nein, es sind viele Formen, die früher schon da waren und wieder vorkommen, Buchstaben werden weiterhin eingesetzt.
JBJ: Sind Schreiben und Zeichnen für Sie das Gleiche?
CJ: Schreiben kann als stark vermittelnd begriffen werden und verschafft der Zeichnung eine andere Ebene der Aussage. Aber meistens wird der Aussagetext wie zum Beispiel bei „oh“ oder bei „follow me“ durch Wiederholung aufgehoben und gleicht einem zeichnerischen Element.
JBJ: Seit 2008 unterrichten Sie an der École des beaux-arts in Lyon. Wie empfinden Sie die Arbeit mit Studenten, die Lehre? Ist sie eher ein Störfaktor, der ihren Arbeitsprozess unterbricht und erschwert, oder sehen Sie die Lehre als Teil Ihrer künstlerischen Arbeit?
CJ: Von der Lehre habe ich auf jeden Fall eines gelernt: Es ist leichter, Distanz zu den Arbeiten anderer als zu den eigenen zu finden. Im Umgang mit Studenten wurde mir auch einiges bewusster, was meine eigene Praxis betrifft: Mehr Klarheit über Gestik, Körperlichkeit, über den Gegensatz zwischen organisch und unorganisch, über Format, Material und insbesondere über die Einfachheit der Mittel. Ein wichtiger Begriff ist für mich der des Austarierens: entstehen lassen, sich und die Arbeit dabei beobachten und das eigene Wissen darüber abrufen, wenn man es braucht.
JBJ: Wie erklären Sie sich diesen Wunsch nach Reduktion?
CJ: Die Notwendigkeit einer starken Reduktion ist mir mit den Jahren wichtiger geworden und führte zur Entwicklung einer klaren Methodologie. Aber die Umsetzung kann nicht immer stringent funktionieren, sonst wäre der Prozess zu kognitiv; kognitiv, das heißt, der Prozess ließe sich nur rational verstehen. Dieser ist aber eher haptisch und gestisch, als Ergebnis einer nicht kognitiven Verinnerlichung zu verstehen.
JBJ: Mehrfach haben Sie in unserem Gespräch die Begriffe Geste, Gestik und gestisch verwendet. Was verstehen Sie darunter?
CJ: Wie entsteht eine Geste? Wie sich verhalten zwischen einem möglichen Mangel an Selbstvertrauen und der Beständigkeit einer Geste, die man verinnerlicht hat? Im Grunde geht es darum, jenen Augenblick zu erreichen, wenn Dinge entstehen können, und sie dabei entstehen lassen. Wenn dieser Augenblick verpasst wurde, wirkt das Ergebnis verkrampft. Man muss präsent sein, kontrolliert, aber nicht wie im Rausch. Aktion und Reaktion sind Teil des Prozesses und als Einheit zu verstehen. Wenn das Geformte organisch bleibt, dann kommt Lebendigkeit auf!
JBJ: Wozu, wenn man dies überhaupt fragen kann, diese Suche nach Lebendigkeit in Ihrer Arbeit?
CJ: Um Freude zu erzeugen, für sich als Künstlerin und möglichst für die anderen.
1 Andrea Jahn, „Einführungstext“, in: Carolin Jörg, Ausstellungskat., hg. von Andreas Baur, Galerien der Stadt Esslingen am Neckar, 2007
2 Ebd.
3 Andreas Baur, „Vorwort“, in: Carolin Jörg, Ausstellungskat., hg. von Andreas Baur, Galerien der Stadt Esslingen am Neckar, 2007
fn4. Simone Kimmel, „Einführungstext“, in: Carolin Jörg, Flugnummer 318NIX, hg. von Neue Galerie im Höhmannhaus, Kunstsammlungen und Museen Augsburg, 2009
5 Ebd.
6 Diese neue Serie von Zeichnungen wurde zum ersten Mal im Herbst 2012 im Rahmen der Reihe „Retour de Paris“ im Karlsruher Centre Culturel Franco-Allemand ausgestellt.
7 Stéphane Mallarmé, „Crayonné au théâtre“